In der Nacht vom Samstag zum Sonntag, dem 21. Juni, ist im Stuttgarter Zentrum eine lokale Rebellion ausgebrochen. Die Stuttgarter*innen, eher noch alle Menschen in Deutschland sind am Sonntag Morgen mit „Kriegsschlagzeilen“ aufgewacht. Die Stuttgarter Polizei und Armee mobilisierte nach Stuttgart: „Wir müssen verhindern, dass das noch einmal passiert.”
Alle bürgerlichen Parteien, von den Linken bis zur AfD „sind empört”. Auch einige Gruppen und Intellektuelle der werktätigen Linken sprachen sich aus gegen „unnötige Gewaltexzesse”. Die 400-500 Jugendlichen sind „Randalierer” und „Plünderer”.
Ein 4-stündiger Aufstand: Läden [vor allem Banken und Filialen internationaler Monopole] wurden angegriffen, es gab Ausschreitungen mit der Polizei.
Das Chor der bürgerlichen „Mitte“ ist sich einig: „Das war zu viel”!
Am Rande des Abgrunds
Das 21. Jahrhundert entwickelt sich weiterhin als eine Epoche der Aufstände. Die „kurze Pause” während der Pandemie wurde erst im Libanon, danach nach der Ermordung von George Floyd in der USA und in Europa beendet.
Die globale Wirtschaftskrise 2007/2008 war viel mehr als eine „Konjunkturkrise”. Sie hat eine viel „tiefere” Krise offengelegt: die Krise der bürgerlichen Gesellschaft.
Die wirtschaftlich-materielle Grundlage der existenziellen Krise rührt aus der einfachen Realität, dass die kapitalistische Produktionsweise zwei existenzielle Grundvoraussetzungen nicht mehr erfüllen kann. Die freie Arbeitskraft, die Lohnabhängigkeit ist erste Grundvoraussetzung kapitalistischer Produktion. Das existenzielle Ziel ist die „Entwicklung der Produktionsmittel”. Dies ist nur möglich durch ständige Revolutionen in der Produktion.
Ein einfacher analytischer Blick in die weltweite Produktion zeigt uns aber, dass die globalen Monopole immer weniger in die Industrie, sondern vor allem in den spekulativen Finanzsektor investieren. Denn der tendenzielle Fall der Profitrate bringt die Kapitalisten dazu, „sich gegenseitig auszurauben” anstatt „neuen Mehrwert zu schaffen”. Während diese Entwicklung auf der einen Seite eine chronische Kapitalanhäufung mit sich bringt, entsteht auf der anderen Seite ein chronischer Überschuss an unproduktiver Arbeitskraft [chronische Arbeitslosigkeit]. Diese beiden Extreme kommen aber nicht zusammen in der Industrie.
Die Kapitalistenklasse bevorzugt es nicht, die Produktionsmittel zu entwickeln, da die internationale Konkurrenz sie eher dazu zwingt, die Ausbeutung relativ und absolut zu stärken. Deswegen sind „Standortschließungen” in den imperialistischen Zentren und die „Öffnung” in den Neokolonien charakteristischer als die “Technologisierung” hier. In der globalen gesellschaftlichen Arbeitsteilung sind die imperialistischen Zentren nun finanz-kapitalistische Länder, während die Neokolonien die neuen Industrieländer geworden sind.
Anders als vorher, als die Krisen aus “nicht-kapitalistischen” Hindernissen rührten und große Konjunkturkrisen zu Momenten wurden, nach denen sich die kapitalistische Produktionsformation „erneuerte”, ist die Krise 2007-2008 Ausdruck dessen, dass das Kapital keine “unberührten” Räume ausgelassen hat. Der Hindernis der kapitalistischen Entwicklung ist der Kapitalismus selbst geworden. Das Kapital ist zu konzentriert und zu zentralisiert, um sich „erneuern“ zu können.
Auf dieser Grundlage befindet sich die bürgerliche Gesellschaft im Ganzen in einer Krise, die wirtschaftliche, politische und ideologische Dimensionen hat.
Es gibt zwei Faktoren, die die politische Krise begründen:
1. Die Massen lassen sich nun auch in den imperialistischen Zentren nicht so regieren wie bisher.
2. Das System der Beziehungen der kapitalistischen Staaten unter US-Hegemonie ist zerfallen und an Stelle von politischer Stabilität ist die zwischenimperialistische Konkurrenz und Krise erstrangig geworden.
„Die schaffende Basis der Aufstände sind Verarmung, Arbeitslosigkeit, Ungleichheit, anders ausgedrückt der in der kapitalistischen Produktionsweise nicht weiter durch Reformen aufzuweichender und antagonistischer Widerspruch zwischen Kapital und Arbeitskraft. Ein anderes Gesicht des Widerspruchs zwischen Kapital und Arbeit ist der zwischen Staat und Volk. Während sich der Widerspruch Kapital-Arbeitskraft verschärft und die Möglichkeiten von Zwischenlösungen ausgeschöpft sind, zeigt sich der der Staat offener und nackter als der des Kapitals.
Die ökonomische, politische und ideologische Lösungslosigkeit der Bourgeoisie führt dazu, dass der bürgerliche Staat seinen Ballast von sich wirft und mit seinem Klassencharakter auftritt: Staatsunterdrückung im Inneren, faschistische Gesetze und Zentralisierung, Stärkung der Polizei; Krieg und Militarisierung im Äußeren.“ (A. Celebi, Dialektik der Aufstände; Marxistische Theorie Ausgabe 40)
Warum wurde jetzt so weit hergeholt? Denn wer die Gründe des Stuttgarter Aufstands finden will, muss in ihrem gesellschaftlichen Kontext suchen.
Krieg, Krise und Chaos sind die charakteristischen Merkmale unserer Epoche. Der Unterschied zum 20.Jahrhundert: auch in den imperialistischen Zentren. Die bürgerliche Gesellschaft steht am Rande des Abgrunds – und mit ihr die gesamte Menschheit.
Alle Kriege, Aufstände und Rebellionen sind Teil des „Krieges am Rande des Abgrunds“.
Während die existenzielle Krise auf der einen Seite „Zerfall“ bedeutet [Zerfall der kapitalistischen Entwicklung, Zerfall der politischen Hegemonie, Zerfall der bürgerlichen Ideologie etc.], schafft sie parallel auch eine „Auferstehung“.
“Das durchschnittliche Bewusstsein der Massen”, Autoritätslöcher und Hegemonie
Die Bourgeoisie herrscht nicht nur mit direkter Unterdrückung, sondern auch mit ideologischer Hegemonie. Die herrschende bürgerliche Ideologie infiziert alle Menschen einer Gesellschaft mit den Gedanken und Werten der herrschenden Klasse. Hegemonie „versteckt“ die Diktatur.
Da sich die kapitalistische Ordnung in einer existenziellen Krise befindet, zerfällt mit ihr auch die Hegemonie der bürgerlichen Ideologie.
„Das durchschnittliche Bewusstsein der Menschen“ ist dynamisch, leicht veränderbar. Die werktätigen Massen vereint ein Gefühl der Perspektivlosigkeit und Orientierungslosigkeit. Die Menschen wissen und erleben selbst, dass der Kapitalismus „so“ nicht funktioniert.
Die Dialektik der Aufstände Ende 2019 und nach einer Pause der Pandemie 2020 zeigt uns: Die Unterdrückten stehen in den Städten auf gegen die jetzigen staatlichen und ökonomischen Zustände. Sie zerstören, wollen zerschlagen, wissen aber nicht, was sie an die Stelle der jetzigen Ordnung stellen sollen. Das ist im Moment für die Unterdrückten aber auch nicht so wichtig.
Der Zerfall der bürgerlichen Ideologie und die politische Krise der bürgerlichen Staaten schafft im großen Rahmen Autoritätslöcher in den Zentren der kapitalistischen Großstädte. In den Großstädten stehen Polizei und Unterdrückte „im Alltag“ gegen gegenüber. Der Widerspruch zwischen Volk und Staat wird durch digitale und physische Kontrollen, „spürbare“ staatliche Autorität Alltag.
Neuere Möglichkeiten der Vernetzung und Kommunikation, aber auch die zentralen „Plätze“ der Großstädte schaffen eine schnelle Beeinflussung und die Formierung einer „Menschenanhäufung“ zu einer „Masse“. Die spontane Initiative der Massen ist charakteristisch für die „aktuellen“ Aufstände.
Die Möglichkeiten dieser massenhaften Kanalisierung der Unterdrückten für den Kampf gegen Staat und Kapital bietet sich auch für den Neofaschismus. Es sind die gleichen Zustände, die sowohl die Unterdrückten aufstehen lassen gegen Polizeigewalt, als auch die Unterdrückten zu Corona-Rebellen machen.
Zeiten wie diese sind Zeiten der sprunghaften und qualitativen Entwicklungen – sowohl für die Massenbewegung, als auch für die politischen Subjekte. Ein kleiner Funke kann einen Brand auslösen.
Stuttgart und Deutschland kann diesem Brand nicht entweichen. Die 4-stündige lokale Rebellion der Jugend ist nur ein kurzes Augenzwinkern unserer Epoche der Aufstände.
* In zweiten Teil geht es weiter mit „Es geht nicht um drei Bäume: Ursache und Verlauf“, „Noch einmal über Zeit und Raum“ und „Die große Abzweigung vor der Menschheit: Kommunismus oder Faschismus“