Die linke Partei HDP bezeichnete das Gesetz als verfassungswidrig, ihr Abgeordneter Abdullah Koc sprach von einem »Putsch gegen die Zivilgesellschaft«. Der Parlamentarier Utku Cakirözer der kemalistischen CHP zog Parallelen zur Einsetzung von staatlichen Zwangsverwaltern anstelle der unter Terrorismusvorwürfen aus ihrem Amt entfernten HDP-Bürgermeister in mittlerweile 46 Städten und Gemeinden. Dieser von der Justiz inflationär gebrauchte Vorwurf wird insbesondere zur Kriminalisierung linker und kurdischer Oppositionsgruppen angewandt.
Auch der frühere HDP-Vorsitzende Selahattin Demirtas sitzt deswegen seit vier Jahren in Haft. Eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom 22. Dezember, wonach die Inhaftierung des populären Oppositionspolitikers politisch motiviert sei und dieser sofort freigelassen werden müsse, wurde am Sonnabend von einem Gericht in Ankara abgewiesen. Zur Begründung verwiesen die Richter auf die »fehlende Übersetzung« des EGMR-Urteils. Indessen dürfte auch eine Nachlieferung der türkischen Übersetzung Demirtas kaum zur Freiheit verhelfen.
Vergangene Woche hatte Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan dem EGMR vorgeworfen, sich mit seinem Urteil offen hinter einen »Terroristen« zu stellen. Innenminister Süleyman Soylu betonte, nicht nur Demirtas sei ein solcher, sondern »auch seine Brüder und Freunde«. Denn diese würden der »ideologischen Struktur« der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) mit einem politischen Schutzmantel zur Legitimität verhelfen wollen. Der MHP-Vorsitzende Devlet Bahceli fordert bereits offen das Verbot der HDP.
Schon jetzt kann der Zustand der vor allem unter Kurden verankerten HDP, die 2018 noch 11,7 Prozent der Stimmen erhalten hatte, nur als halblegal bezeichnet werden. In den vergangenen vier Jahren seien 20.000 HDP-Mitglieder festgenommen und 10.000 von ihnen verhaftet worden, hieß es in einer am Wochenende von der Partei präsentierten Bilanz. Zuletzt war die frühere Abgeordnete Leyla Güven zu 22 Jahren Haft verurteilt worden.
(Von Nick Brauns – jungeWelt)