Türkische Regierung geht weiter gegen Opposition vor. Journalistin in der BRD drohen bis zu zwölf Jahre Haft. Ein Gespräch mit Sehbal Senyurt Arinli*
Während Sie in der BRD Ihrem Stipendium des Schriftstellerverbandes PEN nachgehen, begann am 24. Dezember in der Türkei ein Prozess gegen Sie. Was wird Ihnen vorgeworfen?
Es geht um die Teilnahme an einer Sitzung der demokratischen und freien Frauenbewegung DÖK-H aus dem Jahr 2011, die abgehört und mitgeschnitten wurde. Dabei handelt es sich um die Frauenorganisation der BDP, Vorgängerpartei der HDP. Ich war damals Mitglied im Parteivorstand. Die Frauenbewegung ist in der Türkei großer Repression ausgesetzt und gehört zum wichtigen Bestandteil des dortigen Demokratisierungsprozesses. Bei dieser Sitzung haben wir über verschiedene Themen diskutiert, unter anderem über die Isolation von Abdullah Öcalan, dem Gründer der Arbeiterpartei Kurdistans, PKK. Dieser Tagesordnungspunkt reicht schon aus, um kriminalisiert zu werden, obwohl die systematische Isolation eines Gefangenen überall auf der Welt als eine Menschenrechtsverletzung gilt. Zudem sprachen wir über Aktivitäten gegen ökologische Probleme und gegen umweltschädliche Investitionen, die das natürliche und kulturelle Gefüge irreparabel ruinieren, wie z. B. Wasserkraftwerke. Auch die Proteste gegen diese Wasserkraftwerke wurden kriminalisiert und stehen nun als Vorwürfe in der Anklageschrift. Diese Vorwürfe sind absurd, und in keinem anderen demokratischen Land würde es deswegen zu einem Prozess kommen.
Ist es üblich, nach so langer Zeit für die Teilnahme an einer öffentlichen Versammlung angeklagt zu werden?
Leider ist dies eine gängige Praxis. Die Staatsanwaltschaft wartet häufig eine geraume Zeit, bis es irgendwann zu einer Anklageschrift kommt. Daher wissen auch die Menschen in Untersuchungshaft oftmals lange nicht, was ihnen genau vorgeworfen wird. Das bekannteste Beispiel ist der Fall von Osman Kavala. Jahrelang kam es zu keiner Anklageschrift, weil man ihm nichts Konkretes vorwerfen konnte. Diese Methode soll die Opposition stummhalten und Angst in der Gesellschaft verbreiten.
Das Rechtssystem in der Türkei war schon immer problematisch, mittlerweile ist es aber komplett zusammengebrochen. Der jüngste Fall ist der Prozess gegen Selahattin Demirtas. Der Europäische Gerichtshof fordert seine Freilassung. Jedoch setzt die Türkei dies nicht um.
Welche Strafe droht Ihnen nach derzeitigem Kenntnisstand?
Mir wird die Mitgliedschaft in der PKK vorgeworfen, mir droht eine Haftstrafe zwischen sechs bis zwölf Jahren. Außerdem können zusätzlich Entscheidungen wie die Beschlagnahme von Eigentum und der Entzug anderer Rechte getroffen werden. Am Prozess kann ich nicht teilnehmen, weil ich mittlerweile in Deutschland lebe. Meine Rechtsanwälte werden mich vertreten. Die Vorwürfe weise ich zurück. Unsere Frauenorganisation hat sich für die Rechte der Frauen und andere wichtige gesellschaftliche Themen eingesetzt. Der Mut der Frauen macht der Regierung Angst.
Immer wieder kommt es in der Türkei zu Massenanklagen. Selbst NGOs sind aktuell nicht mehr vor Verboten sicher. Hat sich die Lage weiter verschärft?
Dies kommt in der Türkei inzwischen leider häufig vor. Das Erdogan-Regime hat nach der Beendigung der Friedensgespräche mit der kurdischen Bewegung die Repression Schritt für Schritt ausgebaut, und es wird von Tag zu Tag härter. Seit der Umsetzung des Verfassungsreferendums für die Einführung des Präsidialsystems haben auch die Nationalisten an Stärke gewonnen. Das Regierungsbündnis von AKP und MHP versucht, alle demokratischen Rechte zu blockieren. Gewählte Bürgermeister wurden abgesetzt und durch Zwangsverwalter ersetzt, nun sind die NGOs an der Reihe, deren Leiter ebenfalls abgesetzt und durch Zwangsverwalter ersetzt werden können. Dieser Angriff ist ein großer Schlag gegen die Opposition.
Es sollte hier angemerkt werden, dass viele demokratische Länder die Politik dieser Regierung weiterhin ermöglichen, aus Gründen wie Handelsabkommen, dem Fehlen einer starken Opposition als Gesprächspartner und den Wahlergebnissen in der Türkei. Dabei wird nicht berücksichtigt, wie diese Ergebnisse zustande kommen. Aber langfristig sind wir davon überzeugt, dass die Bewegung für Demokratie, Frieden und Gleichheit wachsen wird. Wir werden nicht aufgeben.
*Sehbal Senyurt Arinli ist Menschenrechtsaktivistin, Filmemacherin, Schriftstellerin und PEN-Stipendiatin
(Interview: Henning von Stoltzenberg – JungeWelt)