Schweiz: Geflüchteter auf Weg in Klinik verstorben. Offenbar Fehldiagnose in Asylunterkunft. Ein Gespräch mit Nurgül Sener**
Am 13. November ist Ihr Cousin Sezgin Dag in der Schweiz auf dem Weg von seiner Asylunterkunft ins Krankenhaus verstorben. Sie haben sich jüngst damit an die Öffentlichkeit gewandt. Weshalb?
Weil es viele Ungereimtheiten gibt. Sezgin war in der Türkei ein aktives Mitglied in der ESP, der Sozialistischen Partei der Unterdrückten, und der HDP, der Demokratischen Partei der Völker. Deswegen musste er aus der Türkei fliehen und kam in die Schweiz. Beim Asylgesuch dort berichtete er den zuständigen Behörden auch über seinen kritischen Gesundheitszustand. Sezgin war eines der schwerverletzten Opfer des Terroranschlags in der türkischen Grenzstadt Suruc, bei dem am 20. Juli 2015 ein Selbstmordattentäter der Dschihadistenmiliz »Islamischer Staat« 33 junge Menschen getötet und mehr als 100 verletzt hatte. Er litt außerdem unter einer koronaren Herzkrankheit. Vor dem Hintergrund haben wir Hinterbliebenen ernsthafte Zweifel, dass Sezgin eine angemessene medizinische Versorgung für seinen kritischen Zustand bekommen hat.
Worauf gründen Ihre Zweifel?
Sezgin begab sich am 12. November 2020 ins Spital Aarberg in Lyss. Er hatte Taubheitsgefühle im Arm und am Kiefer sowie Sodbrennen, Schmerzen im Hals und im Magen. Diese Symptomatik hatte er auch beim Myokardinfarkt in der Türkei. Die Diagnose des behandelnden Arztes lautete Magenverstimmung und Herzrhythmusstörungen wegen eines Energiegetränks. Der Arzt verschrieb ein Schmerzmittel und ein weiteres Medikament. Sezgin wurde zurück ins Asylzentrum geschickt.
Dort verschlechterte sich sein Zustand immer mehr. Seine Freunde alarmierten den Verantwortlichen im Zentrum mehrfach. Gegen 22.00 Uhr wurde es sehr kritisch und lebensbedrohlich für Sezgin. Nach Zeugenaussagen hatte er Schaum vor dem Mund, bekam einen Krampfanfall und klagte lautstark über Schmerzen im Herz. Der zuständige Mitarbeiter rief lediglich ein Taxi anstatt eines Krankenwagens. Sezgin wurde ohne Begleitung alleine mit dem Taxi ins Spital Aarberg gefahren. Laut Aussage der leitenden Kommissarin ist er am 13. November 2020 um circa 00.20 Uhr in diesem Taxi verstorben.
Wen machen Sie für den Tod Ihres Cousins verantwortlich?
Die Schlüsselrolle spielt der Schweizer Staat, der die Lagerverwaltungen nicht ausreichend kontrolliert. Es gibt dort nicht einmal Sanitäter. Diese Zustände müssen sich unverzüglich ändern. Sezgin wurden offensichtlich elementare Menschenrechte verwehrt. Wer nach einem Terroranschlag mit den Splitterfragmenten im Körper sowie mit einer koronaren Herzkrankheit lebte, sollte nicht im Flüchtlingslager untergebracht werden.
Was haben die zuständigen Behörden Ihnen mitgeteilt?
Als Angehörige wurden wir vom Staatssekretariat für Migration, SEM, sowie der Staatsanwaltschaft Bern mit der Aussage vertröstet, dass die Ermittlungen andauern. In Stellungnahmen wurde suggeriert, es habe kein Fehlverhalten von seiten der medizinischen und staatlichen Stellen gegeben. Dem widersprechen wir vehement. Denn wir wollen als Angehörige vor allem, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Es sollen keine weiteren Flüchtlinge wie Sezgin zu Tode kommen.
Was sind Ihre nächsten Schritte?
Es werden auf verschiedene Ebenen Verfahren eingeleitet. Wir warten zunächst auf das Ergebnis der Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Bern. Darüber hinaus können wir als Angehörige Schadensersatzansprüche gegenüber der Einwanderungsbehörde geltend machen. Dies ist ein separates Verfahren. Außerdem soll eine interne Verwaltungsprüfung von der SEM durchgeführt werden, die ebenfalls noch läuft. Wir fordern, dass wir endlich Zugriff auf die bisherigen Ermittlungsergebnisse erhalten und Neuigkeiten nicht nur aus der Presse erfahren.
**Nurgül Sener ist die Cousine des in der Schweiz verstorbenen türkischen Aktivisten Sezgin Dag
(Interview: Henning von Stoltzenberg – jungeWelt)