„Immer die Wahrheit zu sagen bringt einem wahrscheinlich nicht viele Freunde, dafür aber die Richtigen“ (John Lennon)
Migrantifa Hessen wurde nach dem Anschlag von Hanau als antifaschistische und antirassistische Antwort auf den gesellschaftlichen Rassismus in Deutschland gegründet. Menschen, die sich nach dem Anschlag von Hanau politisiert haben, trafen sich mit zum größten Teil Jugendlichen und jungen Erwachsene aus verschiedenen politischen Spektren, um als eine vereinte Kraft gegen die gesellschaftlichen rassistischen Zustände zu antworten.
MIGRANTIFA HESSEN wollte ein Neuanfang im antifaschistischen Kampf vorbereiten und führen. Der Antifaschismus sollte auf migrantischer Ebene neu definiert und geführt werden. Rassismuserfahrungen gab es nicht nur innerhalb des bürgerlichen Systems, sondern auch innerhalb von deutschen linken, antifaschistischen und antirassistischen Organisationen. Nach Hanau sollte nichts mehr wie vorher sein. Der Protest sollte nicht nach kurzer Zeit verhallen sondern eine Kontinuität haben. Der Kampf sollte nicht oberflächlich sein, sondern vielschichtig und vor allen Dingen entschlossen betrieben werden. Rassistische Stimmungsmache von bürgerlichen Parteien sollte nicht nur entlarvt, sondern offensiv bekämpft werden. Der Alltagsrassismus sollte so lange ausgesprochen werden, bis es unmöglich wird, dass Migrant*innen bei Wohnungssuche, Arbeitssuche, Ausbildungssuche und auf allen Ebenen der Gesellschaft als Menschen zweiter Klasse behandelt werden. Gesetze, die die Zweiklassengesellschaft in Deutschland untermauern, sollten bei jeder Aktion gebrandmarkt werden. Nichts sollte wie bisher sein, die Normalität, die für alle Migrant*innen Rassismus bedeutet, sollte so lange abgelehnt werden, bis eine andere Normalität ohne Rassismus und mit Gleichheit für alle Menschen existiert. Der tief verwurzelte Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft sollte so lange Gegenstand der Diskussionen werden, bis der unscheinbarste Schreibtischtäter und heimliche Antisemit keine Grundlage für sein Handeln mehr hat und Parteien wie die AFD keine politische Legitimation mehr haben.
Zu den Zielen von MIGRANTIFA HESSEN gehörte es nicht den Nahostkonflikt zu lösen. Wie sollten auch zum größten Teil neu organisierte Menschen Lösungen für Probleme finden, die von fortschrittlichen Organisationen und Parteien seit Jahrzenten nicht gelöst werden konnten? Es fehlte natürlich an Erfahrungen und Wissen.
Ziel der Demo vom 03.10.2020 war es, allen Kräften, die von Flucht betroffen sind und die sich mit Flüchtlingen solidarisieren, eine Möglichkeit zu bieten, gemeinsam auf der Straße für ihre Forderungen einzustehen. Das Ziel der Demo war es nicht, eine kontroverse Diskussion um den Nahostklickt zu entfachen und zu beweisen, welche Kräfte Recht oder Unrecht haben.
Die Demo vom 03.10.2020 war nicht erfolgreich, weil sie es nicht geschafft hat, die Sensibilität gegenüber den Menschen zu stärken, die durch die Flucht vieles oder alles in ihrem Leben verloren haben. Weder MIGRANTIFA HESSEN, noch anderen Organisationen haben nach der Demonstration über die Zustände in Moria gesprochen oder sich über das Leid der Geflüchteten ausgetauscht. Menschen mit Fluchterfahrungen konnten nicht ihr Schicksal teilen. Stattdessen kamen alle Beteiligten in die deutsche Diskussionsrealität zurück. Während sich die bürgerlichen weißen Gruppen problemlos mit einem Statement aus der Diskussion ziehen konnten, bekamen alle migrantischen Kräfte ihren Shitstorm ab.
Die Realität hatte MIGRANTIFA HESSEN eingeholt: Wenn Politik gemacht wird, dann bitte so wie es Seebrücke, FFF, Copwatch, Uwe Becker (CDU), Frankfurter Rundschau, FAZ und viele andere weiße Kräfte für richtig halten. Der Idee von einer alternativen migrantischen antifaschistischen Politik war damit ein Ende gesetzt. Die Zweiklassengesellschaft, die alle Migrant*innen in Deutschland erleben, wurde auf dem Rücken von MIGRANTIFA HESSEN und BLACK POWER FRANKFURT in Form eines grenzenlosen Shitstorms innerhalb der Diskussionsforen reproduziert. Extremer Druck wurde auf migrantische Menschen mit wenig politischer Erfahrung aufgebaut. “Bis hierhin und nicht weiter” bedeutete der Shitstorm im Endeffekt. In den sozialen Medien wurde gedroht, dass MIGRANTIFA HESSEN aus der linken Szene gekickt wird. Wegen der Demo von MIGRANTIFA HESSEN sollen sich Menschen jüdischen Glaubens unsicher fühlen wurde erklärt. Für Menschen, die hier geboren sind und wegen ihrer migrantischen Herkunft Rassismus erfahren haben war es ein schweres Unterfangen, mit den Anschuldigungen zurecht zu kommen. Sie wollten mit MIGRANTIFA HESSEN den Rassismus in der deutschen Gesellschaft bekämpfen und werden in der Frankfurter Rundschau als „Rassisten von Links“ bezeichnet. Sie sahen den einzigen Ausweg aus dem Dilemma in einer Erklärung, in der sie den Staat Israel anerkennen und den Kontakt mit den anderen migrantischen Organisationen Free Palestine und Stop Child Detention öffentlich für beendet erklärt haben. Aber kann diese Erklärung MIGRANTIFA HESSEN retten? Wird MIGRANTIFA HESSEN weiterhin die Stimme der migrantischen antifaschistischen Menschen sein, wenn sie in entscheidenden Momenten der Obrigkeit, der bürgerlichen Ordnung und den Kräften zuhört, die eine grundlegende Veränderung der Gesellschaft im Grunde genommen nicht ermöglichen können oder wollen?
Alle Kräfte, die vorher ihre Solidarität mit MIGRANTIFA HESSEN erklärt haben, endsolidarisieren sich jetzt. Für sie gleicht die Erklärung einem Verrat an den Idealen für den entschlossenen Kampf gegen Rassismus. Für sie hat MIGRANTIFA HESSEN ihre Glaubwürdigkeit verloren. Viele migrantische Organisationen, die keine Zukunft in MIGRANTIFA HESSEN gesehen haben und deswegen sich ferngehalten haben, sehen sich mit der neuen Erklärung bestätigt. Für sie hat MIGRANTIFA HESSEN keine politische Relevanz mehr.
MIGRANTIFA HESSEN hätte sich aus der Krise retten können, wenn sie nicht auf den Druck von außen reagiert hätte. Sie könnte z. B. eine Statement ablehnen und sagen, dass keine gemeinsame Meinung zu den Konflikten im Nahen Osten vorhanden ist. Sie könnte auch eine Erklärung machen, die ihr reelles Meinungsbild in allen Facetten wiedergeben würde, was niemanden glücklich machen würde, aber mit der alle Meinungen abgebildet wären. Niemand könnte sagen, dass sich MIGRANTIFA HESSEN einer außen stehenden Meinung gebeugt/ angepasst hätte. Aber jetzt hat sie eine Reise begonnen, die am schwierigsten und steinigsten sein wird.
Nutzniesser der Auseinandersetzung sind die Kapitalistenklasse, bürgerliche Politiker und Zeitungen, die die Diskussion angefeuert haben. Es sind die gleichen Kräfte, die
für den Rassismus in der Gesellschaft in Form von Hetzkampagnen und rassistischer Stimmungsmache verantwortlich sind und indirekt Mitschuld an dem Anschlag in Hanau tragen. Es sind die gleichen Kräfte, die das Gedenken am 22. August verboten haben, aber kurze Zeit später Nazis in Berlin Tür und Tor geöffnet haben. Heute freuen sie sich darüber, dass MIGRANTIFA HESSEN ofiziell ihre Tätigkeiten eingestellt hat. Morgen wird ihnen das Lachen vergehen. Dafür garantieren wir ihnen jetzt schon!