Während der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) die großen Festessen zum Ersten Mai abgesagt hat („Solidarität heißt heute zu Hause bleiben“) [1], rufen verschiedene revolutionäre und kommunistische Kräfte auf die Straßen. Auch die Marxist*innen-Leninist*innen gehören zur zweiten Gruppe: „Seien wir auf der Straße im Namen der Arbeiter*innen und Unterdrückten, die nicht zu Hause bleiben können. Seien wir am Ersten Mai auf der Straße, um unsere Errungenschaften zu verteidigen und den Tag zu einem Ausbruch von Wut gegen das System zu verwandeln.“ [2]
Es kommt uns so vor, als würden einige Leute polemisch den Kopf schütteln:
Kommunist*innen müssen solidarisch sein. Und deswegen dürfen wir keine Veranstaltungen und Versammlungen organisieren, die zur Verbreitung des Erregers führt. Wir dürfen nicht mitverantwortlich werden für den Tod von Menschen, die zum größten Teil Arbeiter*innen und Werktätige sind.
Heute auf die Straßen löst uns von den Massen. Die Arbeiter*innenklasse will das gar nicht. Die Straße ist heute unnötig „radikalistisch“.
Wir dürfen unsere Aktionen und Kundgebungen nicht zu wichtig nehmen. Heute ist die Gesundheit wichtiger als Aktionen „mit ein paar Leuten“…
Diese Liste von Gegen„argumenten” kann wahrscheinlich noch seitenlang ausgeführt werden. Gehen wir aber systematisch vor und fangen von Beginn an.
Produktionsverhältnisse
Schon wieder fühlen wir das Kopfschütteln. Es kommt uns so vor, als würde jemand sagen: „Was hat eine Krankheit nun mit den Produktionsverhältnissen zu tun? Warum übertreiben wir immer so?“
Leider müssen wir an dieser Stelle direkt widersprechen. Genauso, wie gesellschaftliche Entwicklungen unter bestimmten Voraussetzungen auftreten und diese mitgestalten, gilt das ebenfalls für gesundheitliche Fragen.
Nicht die Kommunist*innen sind es, die die Gesundheit zu einer gesellschaftlichen Fragen machen, sondern die Klassengesellschaften und zuletzt die Bourgeoisie selbst.
Schon Friedrich Engels hatte in seiner „Wohnungsfrage“ (1872-1973) herausgestellt: „Die moderne Naturwissenschaft hat nachgewiesen, dass die sogenannten »schlechten Viertel«, in denen die Arbeiter zusammengedrängt sind, die Brutstätten aller jener Seuchen bilden, die von Zeit zu Zeit unsre Städte heimsuchen. Cholera, Typhus und typhoide Fieber, Blattern (Pocken) und andre verheerende Krankheiten verbreiten in der verpesteten Luft und dem vergifteten Wasser dieser Arbeiterviertel ihre Keime; sie sterben dort fast nie aus, entwickeln sich, sobald die Umstände es gestatten, zu epidemischen Seuchen und dringen dann auch über ihre Brutstätten hinaus in die luftigeren und gesunderen, von den Herren Kapitalisten bewohnten Stadtteile.“
Es ist nicht der Kapitalismus, der die Krankheit „in Laboren“ schafft, aber die Krankheit ist ein Ergebnis der kapitalistischen Entwicklung. Sie entsteht und verbreitet sind unter „kapitalistischen Umständen“.
Die Konjunktur der Pandemien verengt sich. Natürlich gab es in der Geschichte auch Epidemien und es wird sie auch noch in der Zukunft – jenseits des Kapitalismus – geben, soweit wir in und Teil der Natur sind. Die kapitalistische Produktionsform zerstört die Ökosysteme der Natur aber so verheerend, dass Epidemien zu einem „inneren Gesetz“ der kapitalistischen Gesellschaft geworden sind. Die letzten zwanzig Jahre sind voll von regionalen Epidemien und Pandemien.
Es stimmt, dass auch die Bourgeoise erkranken kann. Und deswegen bekämpft sie die Epidemie auch. Aber sie kann sie nicht langfristig bekämpfen, weil die Umstände für die Begründung der Krankheiten ihre eigene Existenz begründen.
Eigentlich
Wenn eine Pandemie „durch Menschen“ verbreitet wird, ist „zu Hause bleiben“ eine Sofortmaßnahme, die zu ergreifen ist. Es gibt Beispiele in der Sowjetunion (1920’er in Aserbaidschan), in der sie die Isolation und Kontaktsperren ganzer Städte und Dörfer angewandt haben. Auch in Rojava gibt es gerade eine Ausgangssperre. Dort rufen die Kommunist*innen auch dazu auf, zu Hause zu bleiben.
Aber
Leider ist die Pandemie unter „kapitalistischen Verhältnissen“ ausgebrochen und sie entwickelt sich „klassenbedingt“.
Die Arbeiter*innen werden zum Arbeiten gezwungen. Sie werden vor die Grundfrage gestellt: „Armut oder Krankheit“. Die Bourgeoisie sagt: „Zu Hause bleiben – außer die Arbeiter*innen.“
Entlang der Profitlinie haben sich die Kapitalisten ein Krisenplan erstellt. Der Staat pumpt Geld in Monopole. Die Unternehmen, die ihren Profit sichern und können, bieten „Home-Office“ an.
Der revolutionäre Arbeiter Taylan Can vom Thyssen-Mannesmann-Betrieb in Duisburg berichtet: „Obwohl es im Betrieb auch erkrankte Arbeiter*innen gibt, hat sich nichts verändert. Nur die Kantine hat geschlossen.” [3]
Für die Arbeiter*innen hat sich also nichts verändert. Und für die Revolutionär*innen?
Revolutionär*innen
Revolutionär*innen sind Menschen, die die gegebene Situation praktisch angreifen und verändern. Revolutionär*innen werden immer vor der Aufgabe stehen, Wege zu suchen. Wege, um die gegebene Situation zu verändern.
Wie Marx schon herausstellte: „Die Weltgeschichte wäre allerdings sehr bequem zu machen, wenn der Kampf nur unter der Bedingung unfehlbar günstiger Chancen aufgenommen würde.“
Revolutionär*innen „machen Geschichte“ unter den Umständen, die sie vorfinden.
Verläuft die Pandemie „klassenbedingt“?
Wenn wir diese Frage bejahen, haben Revolutionär*innen keine andere Aufgabe, als den Kampf auf die Zeit der Pandemie anzupassen.
Die Bourgeoisie nutzt diese Zeit, um einen „Burgfrieden“ aufzubauen. Der Staat versucht, diese Zeit als ein Kampf zwischen „Menschheit versus Corona“ und sich selbst als Speerspitze im Kampf gegen die Epidemie zu etablieren.
Stärkt der Staat seine Polizeipräsenz und Armeemobilisierung?
Greift der Staat die politischen Freiheiten und Grundrechte an?
Nutzt die Bourgeoisie diese Zeit, um schon seit längerem geplante Angriffe wie die Kurzarbeit gegen die Arbeiter*innen durchzusetzen?
Es wäre naiv zu denken, dass all dies „vorrübergehende” Einschränkungen wären.
Wenn wir alle diese Fragen bejahen und trotzdem in einer „Pausenstimmung” sind, gibt es ein Problem.
„Verantwortungsbewusstsein” und „Solidarität” sind keine abstrakten Begriffe. Sie hängen von dem Subjekt und ihrer Beziehung zur Realität ab.
Für die gelben Gewerkschaften heißt Solidarität „zu Hause bleiben”. Wie soll es denn auch anders sein? Sie sind das Bindeglied zwischen der Arbeiter*innenklasse und dem bürgerlichen Staat. Während die echte Forderung für die Arbeiter*innenklasse der „bezahlte Urlaub” wäre, haben sie sich von Anfang an auf „Kurzarbeit” geeinigt. Sie haben die Arbeiter*innen, die nicht zu Hause bleiben können, im Stich gelassen. Ist es an Absurdität zu überbieten, dass Arbeiter*innen jeden Tag arbeiten gehen sollen und sich die Gewerkschaften damit abgefunden haben, aber der Erste Mai mit der Parole “Solidarität heißt heute zu Hause bleiben” abgesagt wird?
Diejenigen Teile der werktätigen Linken, die nicht über die Grenzen des Systems denken können (Reformisten), werden auch „zu Hause bleiben” und abwarten.
Aber was ist die „Verantwortung” und die „Solidarität” für Revolutionär*innen?
Es gibt ein ungeschriebenes Gesetz im Seeverkehr. Der Kapitän darf aus einem kapernden Schiff nur dann aussteigen, wenn die*der letzte Passagier*in ausgestiegen ist. So können wir uns das auch mit Revolutionär*innen und Arbeiter*innen und Unterdrückten vorstellen. Bis die*der letzte Arbeiter*in nicht zu Hause ist, dürfen wir nicht zu Hause bleiben.
Was ist die „Verantwortung” einer*s Revolutionär*in?
Das Leben der Arbeiter*innen zu schützen, zu verteidigen. Das können Revolutionär*innen nicht machen, in dem sie diese Zeit „überbrücken”. Die Verantwortung von Revolutionär*innen ist es, dieses System zu stürzen. Und die Pandemie ist nicht eine Krise der Menschheit, sondern beinhaltet unzählige revolutionäre Möglichkeiten, den Kampf zu vergrößern.
Mao hatte gesagt: „Es herrscht ein großes Chaos unter dem Himmel, aber die Bedingungen sind exzellent.“
Revolutionär*innen warten nicht auf “normale” und “risikofreie” Momente.
Natürlich steigt die Gefahr, krank zu werden, wenn wir auf der Straße sind. Revolutionär*innen, die im Untergrund leben, im Krieg kämpfen, auf den Barrikaden kämpfen, „leben auch gefährlich”.
Revolutionär*innen begeben sich nicht in unnötige Gefahren, aber messen ihre politische Aktion und die Aufgaben nicht am “Risiko”.
Die Bedeutung der Straße
Grundsätzlich ist es falsch, unsere politische Aktion zu messen an dem durchschnittlichen Niveau der Arbeiter*innenklasse. Die Mehrheit der Arbeiter*innen steht heute sowieso unter der Hegemonie des Staates.
Revolutionär*innen messen ihre politische Aktion ausgehend von den Auswertungen der Situation und die Aufgaben, die sich aus ihr begründen.
Revolutionär*innen haben die Aufgabe, gesellschaftlich zu denken.
In ihrer Erklärung zeigen die Kommunist*innen das Verhältnis zwischen den Verantwortlichen der Pandemie und denen, die die Last der Pandemie tragen:
„Sie sind es, die das Gesundheitssystem privatisierten und zu einem Markt für ihren Profit machten. Sie sind es, die nicht vorgesorgt haben für größere Ausbrüche von Krankheiten, obwohl sie die Mittel dazu haben. Sie investieren in Waffen, Panzer und Bomben, als in die Medizin.
Sie sind es, die die Agrarwirtschaft zu einem Sektor für Spekulanten gemacht haben und alle Bereiche unseres Lebens für ihre Profite zerstören.
Sie sind es, die das Klima beinahe zum Kollaps bringen und die Ökosysteme unserer Erde zerstören.
Sie sind es, die mit unseren Steuern Monopole und Unternehmen retten, uns aber Desinfektionsmittel, Masken und Tests teurer verkaufen.”
Das Europakomitee stellt heraus, dass es die Unterdrückten sind, die trotzdem die Last der Pandemie tragen:
Und wer trägt die Last?
Die Werktätigen, die sich keine privaten Atemgeräte leisten und ihre Häuser zu privaten Krankenhäusern verwandeln können. Die älteren Menschen, die zu Dutzenden in den Altenheimen dem Tod überlassen werden. Die Frauen, die unter Quarantäne Gewalt ausgesetzt sind. Die Migrant*innen, die in den Geflüchtetencamps überall in Europa dem Tod überlassen werden.”[4]
Revolutionär*innen müssen sich bewusstwerden, dass nicht die „Straße, sondern Profitgier” für das Ausbreiten des Virus verantwortlich ist.
Abgesehen von dieser allgemeinen Herangehensweise an die Bedeutung der Straße, müssen dazu noch einige „aktuelle” Seiten hervorgehoben werden.
1- Politische Freiheiten verteidigt man auf der Straße. Das Versammlungsrecht ist Prüfstein der politischen Freiheiten. Wenn Revolutionär*innen den Einschnitt in das Versammlungsrecht und die politischen Freiheiten aufhalten wollen, müssen sie sich auf der Straße „versammeln”, an der Straße festhalten.
2- Die politische Massenagitation ist heute wichtigstes Glied revolutionärer Politik. Natürlich ist es wichtig, auch den digitalen Raum dafür zu nutzen. Aber unter den Umständen, unter denen die Arbeiter*innen auf der Straße und im Werk sind, ist der hauptsächliche Raum der Massenagitation die Straße.
Aus den grundsätzlichen Überlegungen und den aktuellen Dimensionen der politischen Angriffe des bürgerlichen Staates folgt die revolutionäre Taktik, die Straßen nicht zu verlassen.
Unter den Umständen hat es sehr wohl eine sehr große politische Bedeutung, mit zehn Leuten eine Aktion vor einem Werk zu machen und „bezahlten Urlaub” für die Arbeiter*innen dieses Werks zu fordern. Es hat eine sehr große Bedeutung, Versammlungen anzumelden und diese durchzukämpfen, die „Allmächtigkeit” der staatlichen Hoheit aufzubrechen. Es hat eine sehr große Bedeutung, die Solidarität unter den Unterdrückten auf der Straße, in den Nachbarschaften und in den Stadtteilen aufzubauen…
Natürlich können Revolutionär*innen nicht die Massen zu hunderttausenden auf die Straßen tragen. So viele Arbeiter*innen und Unterdrückten hören auch (noch nicht) auf die Aufrufe. Aber die Revolutionär*innen – vor allem die jungen Revolutionär*innen, die nicht zur Risikogruppe gehören – müssen im Namen der Arbeiter*innen und Unterdrückten diese historische „Verantwortung” übernehmen.
Aus diesen Gründen müssen wir auf die Straße. Die Straße ist nicht der Feind unserer Gesundheit. „Achten wir auf die Gesundheitsvorkehrungen, lassen aber die Straßen nicht der unbegrenzten Ausbeutung und seinem Staat.” [5]
Für Revolutionär*innen heißt heute „Verantwortungsbewusstsein” und “Solidarität” mit den und für die Arbeiter*innen und Unterdrückten auf der Straße zu stehen.
Es ist nicht die Zeit, einen Schritt zurück zu gehen und sich zu schützen, sondern einige Schritte vorzuspringen, um die Zukunft zu erkämpfen. Die effektivste Waffe gegen die Pandemie ist die Zerschlagung des Kapitalismus.
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[1] https://www.dgb.de/themen/++co++bf7debc2-6a90-11ea-a0aa-52540088cada
[3] Interview veröffentlicht in türkischer Sprache auf der Webseite von AvEG-Kon https://avegkon.com/2020/04/13/thyssen-mannesmann-iscisi-agif-uyesi-taylan-can-covid-19a-ragmen-calistiriliyoruz/
[5] ebd.