Türkei: Linker Aktivist mutmaßlich vom Geheimdienst entführt und tagelang gefoltert. Ein Gespräch mit Gökhan Günes*
Am 20. Januar wurden Sie vor Ihrer Arbeitsstelle in Istanbul entführt und waren für sechs Tage verschwunden. Wie ist das passiert?
An dem Tag habe ich mich etwas später als sonst zur Arbeit aufgemacht. Ich wohne im Stadtteil Ikitelli, und meine Arbeitsstelle befindet sich im Stadtteil Basaksehir. Gegen zwölf Uhr bin ich aus dem Bus ausgestiegen, und plötzlich standen vier Personen vor mir. Der eine hat mich angesprochen und sagte »Kannst du mal kurz schauen?« Als ich mich umgedreht hatte, lag ich bereits auf dem Boden. Sie haben mich in einen Wagen gezerrt. Ich hatte mich gewehrt, deswegen haben sie ein Elektroschockgerät benutzt. Als ich dann wieder zu Bewusstsein kam, haben mich zwei Personen festgehalten, und ich hatte einen Sack über dem Kopf. Unterwegs sind wir in ein anderes Auto umgestiegen, aber ich konnte nichts sehen und weiß auch nicht, wo es war.
Haben Sie Folter erlebt?
Meine Entführer haben systematisch Folter angewendet: Sie haben mich zusammengeschlagen, Elektroschockgeräte benutzt und mit kaltem Wasser übergossen. Während der Folter war ich meistens nackt, gefesselt, und meine Augen waren verbunden. Dort, wo ich war, muss es mehrere Folterräume gegeben haben. Einen Bereich nannten sie »das Grab«. Es war eine Gummizelle, in der die ganze Zeit grelles Licht aus einem Projektor kam. Dort hatten sie über einen Lautsprecher ununterbrochen nationalistische Lieder laufen lassen.
Außerdem haben sie mich die ganze Zeit massiv bedroht, um mich zur Zusammenarbeit zu zwingen. Ich sollte als Informant für sie arbeiten. Zwischenzeitlich haben sie auch psychologischen Druck ausgeübt und mir mit Vergewaltigung gedroht. Nach Gesprächen folterten sie mich weiter. Sie haben mehrmals gefragt, ob ich wüsste, wer sie seien. Ich habe dann geantwortet, dass sie vom Geheimdienst seien, aber das haben sie weder bejaht noch verneint. Später meinten sie, sie wären »Menschen im Hintergrund«. So ging das die ganzen Tage. In den Morgenstunden am sechsten Tag haben sie mir Kleidung gegeben und mehrere Stellen an meinem Körper mit Desinfektionstüchern gesäubert. Dann musste ich mit verbundenen Augen in ein Auto einsteigen. Kurz vor meiner Freilassung kam jemand und sagte: »Wir behalten nur deine SIM-Karte. Alles andere kriegst du wieder zurück«. Sie haben mich in dem Stadtteil freigelassen, wo sie mich auch entführt haben. Ich habe dann ein Taxi genommen und bin zu meinen Eltern gefahren.
Man wollte Sie als Informant gewinnen?
Ich bin Aktivist der ESP (Sozialistische Partei der Unterdrückten, jW) im Stadtteil Ikitelli. Seitdem meine Eltern aus Tokat nach Istanbul gezogen sind, lebe ich in diesem Viertel und bin für meine sozialistische Einstellung bekannt. Ich bin kein Einzellfall: Diese Methoden des Geheimdienstes sind in den neunziger Jahren in der Türkei bekanntgeworden, und sie werden auch heute noch angewendet. Mit dieser Vorgehensweise versuchen sie, Jugendliche einzuschüchtern und als Informanten zu gewinnen. Das war eindeutig auch das Ziel meiner Entführung, während der Folter wurde mir das mehrmals angeboten.
Ihr Fall erfuhr viel Aufmerksamkeit. Wie schätzen Sie das ein?
Ich habe erst nach meiner Ankunft bei meinen Eltern mitbekommen, was in den vergangenen Tagen passiert und an Öffentlichkeitsarbeit geleistet wurde. Ich möchte mich bei meiner Familie, Freunden, Genossen und der ganzen Öffentlichkeit für die Solidarität bedanken, die sie gezeigt haben.
Ich bin sehr, sehr erschöpft, aber diese Unterstützung gibt mir die nötige Kraft, denn wir müssen den gemeinsamen Kampf vorantreiben. Diese Solidarität brauchen wir in der Türkei. Meine Familie, Freunde und Genossen standen jeden Tag auf der Straße, zum Beispiel vor der Polizeistation und dem Gericht in Caglayan, um nach meinem Aufenthaltsort zu fragen und meine Freilassung zu fordern. Dafür haben sie selbst Repressalien erfahren. Trotzdem haben sie die Öffentlichkeit weiter informiert und für starke Berichterstattung gesorgt. Oppositionelle Abgeordnete haben eine parlamentarische Anfrage gestellt, in der sie die Regierung aufgefordert haben, zu meinem Verbleib Stellung zu nehmen. Das alles war mit Sicherheit sehr wichtig für meine Freilassung.
*Gökhan Günes ist Aktivist der ESP (Sozialistische Partei der Unterdrückten)
(Interview: Henning von Stoltzenberg – JungeWelt)