Repressionswelle gegen linke Opposition in der Türkei nach Tod von Kriegsgefangenen im Nordirak
In der Türkei ist eine weitere Repressionswelle gegen die vor allem unter Kurden verankerte linke Demokratische Partei der Völker (HDP) angelaufen. Das Innenministerium in Ankara meldete allein für Montag die Festnahme von 718 Menschen in 40 Provinzen des Landes. Unter den Festgenommenen sind eine Reihe von regionalen Vorstandsmitgliedern und Kommunalpolitikern, denen Verbindungen zur Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) vorgeworfen werden.
Aus der islamistisch-faschistischen Regierungsallianz aus AKP und MHP wird derweil offen ein Verbotsverfahren gegen die HDP als vermeintlich parlamentarischer Arm der PKK gefordert. Auch Meral Aksener, die Vorsitzende der offiziell dem Oppositionsblock angehörenden MHP-Abspaltung Gute Partei (IYI), hat bereits Zustimmung zu einem HDP-Verbotsverfahren angekündigt. Diese HDP bildet die drittgrößte Fraktion im Parlament. Bei den letzten Parlamentswahlen 2018 erhielt sie 11,7 Prozent der Stimmen.
Zur chauvinistischen Stimmungsmache gegen die HDP dient seit Sonntag insbesondere der Tod von 13 angeblich von der PKK erschossenen türkischen Kriegsgefangenen bei einer Militäroperation in der nordirakischen Gare-Region. Die PKK hatte den Vorwurf strikt zurückgewiesen. Die kriegsgefangenen Soldaten, Polizisten und Geheimagenten seien infolge der dreitägigen Bombardierung des in einer Schlucht gelegenen Gefangenenlagers durch die türkische Luftwaffe und den heftigen Gefechten am Boden ums Leben gekommen, erklärten die Volksverteidigungseinheiten (HPG). Präsidialamtssprecher Ibrahim Kalin hatte anfangs behauptet, bei den Toten handele es sich um Zivilisten. Das Gouverneursamt der Provinz Malatya, wo die Leichen gerichtsmedizinisch untersucht wurden, erklärte dagegen, zehn der bislang identifizierten Toten seien Soldaten und Polizisten. Mittlerweile gehen die HPG davon aus, dass die türkische Armee im Gefangenenlager auch Giftgas eingesetzt hat. Nach drei Tagen sei im Lager und der Umgebung noch immer ein schwerer chemischer Gasgeruch festzustellen, teilte das Pressezentrum der HPG am Dienstag mit.
Der HDP-Vorsitzende Mithat Sancar machte am Dienstag in der Fraktionssitzung die Regierung für das »Massaker« an den Gefangenen verantwortlich und forderte einen unabhängigen Untersuchungsausschuss sowie die Veröffentlichung der Autopsieberichte. Die Regierungskoalition mache die HDP zum »Sündenbock« für die toten Gefangenen, um die eigene Schuld zu verschleiern, erklärte Sancar. »Die HDP ist identisch mit der PKK«, hatte etwa Fahrettin Altun, der Kommunikationsdirektor von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan, auf sozialen Netzwerken verkündet. Dazu hatte Altun ein Bild des seit über vier Jahren inhaftierten früheren HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtas mit einem Fadenkreuz vor dem Kopf verbreitet.
Die HDP-Abgeordneten Hüda Kaya und Ömer Faruk Gergerlioglu wiesen darauf hin, dass ihre Partei immer wieder Initiativen für die Freilassung und sichere Rückkehr der sich seit 2015 und 2016 in der Gewalt der Guerilla befindlichen Soldaten und Polizisten gestartet und sich dafür Dutzende Male mit deren Angehörigen getroffen habe. Bei der Regierung seien sie dabei auf taube Ohren gestoßen. »Würde eine Atmosphäre des Friedens herrschen, wären diese Menschen noch am Leben«, schrieb Gergerlioglu auf Twitter. Gegen die beiden Abgeordneten wurde aufgrund ihrer Äußerungen ein Ermittlungsverfahren nach dem berüchtigten Strafrechtsartikel 301 wegen »Herabsetzung der türkischen Nation« eingeleitet, meldete die kurdische Nachrichtenagentur ANF am Sonntag, deren Website sich seit Wochenbeginn heftigen Cyberangriffen ausgesetzt sieht.
Mit der Formulierung: »Sollten sich die Meldungen über den Tod von türkischen Zivilisten durch die PKK (…) bewahrheiten, dann verurteilen wir diese Tat auf das schärfste«, hatte das US-Außenministerium in der Nacht zu Montag noch Zweifel an der türkischen Darstellung geäußert. Nachdem deswegen der US-Botschafter ins Außenministerium in Ankara einbestellt worden war, versicherte US-Außenminister Antony Blinken in seinem ersten Telefonat mit seinem türkischen Amtskollegen Mevlüt Cavusoglu am Montag abend, auch Washington gehe von der Verantwortung der PKK für den Tod der »Geiseln« aus.
(Von Nick Brauns – JungeWelt)